Nachdem wir im ersten Teil des Beitrags Leben und Werk Hildegards von Bingen, aber auch ihre heutige Vereinnahmung kurz kennengelernt haben, sollen im folgenden einige ihrer Ansichten zu Vererbung, Geschlecht und Charakter dargestellt werden. Damit sind wir in einem Bereich, der zu den medizinischen Grundlagen gehört (im Mittelalter wird das oft physica 'Naturkunde' genannt); bewußt lasse ich das Gebiet der Therapie beseite, das ohne den großen Zusammenhang mit heutzutage auch den meisten Medizinhistorikern wenig vertrauten Quellenschriften nicht sinnvoll erörtert werden kann. Ein weiterer Vorteil ergibt sich daraus, daß wir hinsichtlich der Echtheit von Aussagen Hildegards dort, wo es Parallelen zwischen den visionären Werken, zu allererst dem Scivias und dem Liber divinorum operum, und den medizinischen Schriften gibt, in einer unvergleichlich besseren Ausgangsposition sind als bei den vielen Rezepten der Physica, wo spätere Änderungen und Zusätze weniger leicht erkannt werden können.
Charakter und Samen im Scivias
Hildegard fragt: Warum sind die Menschen so, wie sie sind? Warum sind sie voneinander verschieden, nach ihrem körperlichen Äußeren, nach ihrem Charakter und nach ihrem Lebensschicksal? Damit stellt sie die Frage nach der Determination unseres Seins, unseres So-Seins; sie spricht die Frage der Prädestination und des freien Willens an, Grundprobleme der Anthropologie also, ganz gleich, ob man sich ihnen aus theologischer oder aus allgemeinphilosophischer Sicht nähert.
Die erste Textstelle, die ich erörtern möchte, entstammt dem frühesten überhaupt von Hildegard schriftlich niedergelegten Werk, dem großen Visionenbuch Scivias - Wisse die Wege. In der 4. Vision des 1. Teils wird dort u. a. die Frage behandelt, welcher Zusammenhang zwischen dem menschlichen Samen und den damit gezeugten Kindern besteht. Wir bemerken zu unserer Überraschung, daß Hildegard nicht theologisch-philosophisch argumentiert, sondern daß ihre Erklärung eher naturwissenschaftlich-materialistisch ausfällt. Dazu muß man freilich anmerken, daß erst der gewaltige Wissenszuwachs in den Naturwissenschaften im Gefolge der Renaissance zu dem uns geläufigen Gegensatz theologischer und naturwissenschaftlicher Positionen geführt hat; für Hildegards Zeit gelten andere Voraussetzungen.
Daß der Nachwuchs in seinen äußeren Merkmalen eine Übereinstimmung mit den Eltern zeigt, war bei Mensch und Tier schon lange beobachtet worden. Man hatte auch versucht, diesen Vererbungsvorgang in Hypothesen zu beschreiben und zu erklären. Hildegard begibt sich in ihrer Vision auf ein verwandtes und doch ganz anderes Gebiet, sie will verständlich machen, wie die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des menschlichen Samens mit dem Charakter der damit gezeugten Kinder zusammenhängen; die Überschrift dieses Abschnitts lautet Von der Uneinheitlichkeit des menschlichen Samens und der Verschiedenheit daraus entstandener Menschen.
Wie man unschwer vermuten kann, läuft das auf eine Typologie hinaus. Im vorliegenden Fall bildet Hildegard drei Gruppen, die das Spektrum menschlicher Lebenswege und Schicksale abdecken sollen oder vielleicht auch bloß die drei Gruppen sind, die sie besonders interessieren. Derartige Unterteilungen kehren übrigens bei Hildegard häufig wieder; ich möchte darin ein Charakteristikum ihrer Arbeitsweise sehen, sicher nicht ohne Bezug zur beginnenden Scholastik und demnach ein Zeugnis dafür, daß Hildegard der Wissenschaft keineswegs so fern stand, wie man aus manchen ihrer Selbsteinschätzungen unbefangen schließen würde.
Die erste dieser drei Gruppen zeichnet sich aus durch Tüchtigkeit (strenui). Diesen Menschen eignet eine große Herrlichkeit an geistlichen und weltlichen Gaben; für alle sichtbar, gedeihen sie hervorragend in ihren Werken bei Gott und den Menschen, mit Klugheit, Mäßigung (discretio, mâze) und Fähigkeit sind sie reich begabt, und der Teufel kann sie nicht anfechten.
Eine zweite Gruppe stellt dazu das Gegenbild dar: diese Menschen sind töricht, unentschieden (tepidi, wörtlich: lau) und unnütz, was sie tun, bleibt ohne Erfolg vor Gott und den Menschen, weil sie Gott nicht angestrengt suchen.
Die dritte Gruppe schließlich ist durch Häßlichkeit (informes), Bitterkeit, Schwierigkeit und Bedrückung gekennzeichnet, so daß es diese Menschen oft nicht vermögen, ihren Sinn zu Höherem zu erheben. Gleichwohl gelingt es vielen von ihnen, ein nützliches Leben zu führen, obgleich sie und vor allem, weil sie viele Stürme und Widrigkeiten zu bestehen haben; Ruhe nämlich würde sie lau und unnütz machen. Trotz eher negativer Anlage haben sie letztendlich Erfolg und gehen als Sieger aus dem Lebenskampf hervor.
Als Ursache für diese Unterschiede in Charakter und Lebensweg sieht Hildegard die Beschaffenheit des menschlichen Samens an. (An dieser Stelle ist wohl allein an einen Zeugungsbeitrag des Mannes gedacht; anderswo nennt sie in traditioneller Weise das das Menstruationsblut als weiblichen Zeugungsbeitrag.) Hildegard bedient sich des schon in der Bibel (bei Hiob 10,10) erwähnten geläufigen Vergleichs des menschlichen Samens mit gerinnender Milch bei der Käseherstellung, der erklärt, wie aus etwas Flüssigem, dem Samen, etwas Festes, nämlich die Leibesfrucht, wird: aus dicker, somit fetter Milch wird starker Käse, bei dünner Milch ist es genau umgekehrt, und - damit sind wird bei der dritten Kategorie - mitunter hat die Milch eine faulige Beimischung (tabes), die Ursache bitteren Käses (fortis-debilis-amarus).
- In Fall 1 ist der Samen stark, gut gekocht und gut gemischt (d. h. zusammengesetzt);
- in Fall 2 schwach, nur halb gar und halb zusammengemischt;
- in Fall 3 in untauglicher Weise abgesondert (nequiter eductum) und in unbrauchbarer Zusammensetzung (Mischung).
Die Vorstellung von der Kochung und Mischung des Samens, von dickem, demzufolge gutem, und dünnem, somit schwachem Samen können wir in der antiken Medizin wiederfinden. Für die Menschen des Altertums hatten Kochen und Mischen eine ganz bestimmte, weitergehende Bedeutung, die wir uns erst verdeutlichen müssen: Durch Kochen werden viele Nahrungsmittel erst genießbar, d. h. das Kochen verändert sie so, daß sie genutzt werden können; das Mischen ist nicht nur bei der Bereitung des Weins, dem stets Wasser, kaltes, heißes und sogar Salzwasser, zugesetzt wurde, sondern vor allem in der Technik bei der Herstellung von Metallegierungen von entscheidender Bedeutung für die Eigenschaften des Endprodukts. Wenn wir die Nuance ein klein wenig verschieben und statt des antiken Begriffs der Mischung (griech. krasis, lat. temperamentum, mittellat. in diesem Sinne complexio) den der Zusammensetzung verwenden, leuchtet uns das noch leichter ein.
Trotzdem bildet die antike Medizin und Naturwissenschaft letztendlich nur die Basis, eine - wenngleich unverzichtbare - Grundlage, auf welcher Hildegard anschließend ihr eigenes Gebäude errichtet, das Theologie, religiöse Schau und Naturwissenschaft in eigentümlicher Weise verbindet.
Charakter und Samen in den Causae et curae
Später geht Hildegard diesen Weg selbständiger theoretischer Entwürfe weiter. In ihrem Hauptwerk zu Medizin und Physiologie nämlich, den Causae et curae, entwirft sie ein weitaus differenzierteres Schema (CC S. 35,17-36,12 Kaiser). Dieses soll nicht allein, wie zuvor im Scivias, eine Verbindung zwischen Samen und Charaktereigenschaften herstellen, sondern darüber hinaus das Geschlecht des Kindes erklären.
Hinsichtlich des Charakters beschränkt sich Hildegard wiederum auf eine grobe Einteilung. Der positive Typ ist prudens und virtuosus (besonnen und reich an guten Eigenschaften), was dem strenuus, utilis entspricht, bei dem die prudentia ja auch angeführt wurde. Der negative Typ wird als amarus (bitter oder herb) bezeichnet, was man am ehesten im Sinne der gerade behandelten Scivias-Stelle verstehen kann. Als weitere Eigenschaft ist 'schwach' genannt, und wir könnten sogar so weit gehen, hier eine Wiederholung des Dreierschemas aus dem Scivias zu sehen. Eine ähnliche Einteilung verwendet Hildegard an einer anderen Stelle (CC S. 77,33-78,7 Kaiser), wo sie vom guten Einfluß des zunehmenden und umgekehrt vom schlechten Einfluß des abnehmenden Mondes auf die Zeugung spricht.
Die Konsistenz des Samens ist bei dieser Einteilung, die uns hauptsächlich beschäftigt, allerdings nicht mehr die einzige Variable. Als weitere Determinante führt Hildegard die Liebe ein, und zwar differenziert sie dabei sehr genau zwischen der Liebe des Ehemannes zu seiner Frau einerseits und andrerseits der Liebe der Ehefrau zu ihrem Mann. Entscheidend ist wohlgemerkt das Ausmaß der Liebe im Augenblick der Zeugung. Hildegards Angaben lassen sich in einer Tabelle zusammenfassen, die ich um die letzte Zeile - eine Kombination, die in Hildegards Text fehlt - ergänzt habe.
Samen
Liebe
/
Liebe
/
Kind
stark
+
+
besonnen, voll guter Eigenschaften
stark
+
-
schwach
dünn
+
+
voll guter Eigenschaften
dünn
+
-
dünn
-
+
stark
-
-
bitter
dünn
-
-
bitter
(stark
-
+
)
Wie wir erkennen, wird das Geschlecht des Kindes durch die Beschaffenheit des (männlichen) Samens bestimmt. Der Charakter des Kindes hingegen ist abhängig von der Liebe zwischen Mann und Frau. Die günstigste Kombination - Zeile 1 der Tabelle - liegt vor, wenn ein starker Same und die Liebe beider Eltern zusammentreffen; dann entsteht ein männliches Kind, das besonnen und reich an guten Eigenschaften ist. Im ungünstigsten Fall - vorletzte Zeile der Tabelle - entwickelt sich bei mangelnder Liebe aus dünnem Samen ein Mädchen, welches 'bitter' ist.
Hildegard probiert also mehrere verschiedene Modelle durch, die erklären sollen, wie die Eigenschaften eines Kindes vor seiner Geburt, im Augenblick seiner Zeugung, bestimmt werden. Weder die Tatsache der Determinierung noch der Zeitpunkt scheinen ihr zweifelhaft zu sein. (Derselbe Gedanke liegt den Aussagen am Schluß der Causae et curae zugrunde, die aus dem Stand des Mondes im Augenblick der Zeugung Schicksal und Charakter ableiten; diese Passage sprechen manche Forscher Hildegard ab.)
Männertypen, Frauentypen
Nach diesen beiden Beispielen für Hildegards Neigung, in ziemlich apodiktischer Weise zu klassifizieren, wenden wir uns abschließend Hildegards Typologie von Männern und Frauen zu, wo wir diese Vorliebe erneut antreffen. Diese Typologie beruht auf der Lehre von den vier Körperflüssigkeiten oder -säften, die mit den Bildern des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers auch heute noch jedem vertraut ist, mehr als verschiedene wissenschaftliche Versuche der Typenbildung aus unserem Jahrhundert.
Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker wurzeln zwar in der hippokratischen Lehre von den vier Körpersäften, lassen sich aber im medizinischen Denken erst ab der Spätantike nachweisen. Sie bestimmen das Handeln des Arztes unmittelbar in Therapie und Prophylaxe, da sich die zu treffenden Maßnahmen fast immer auch nach dem Säftetyp richten.
Hildegard von Bingen steht also wieder und unverkennbar in einer langen Kette der Tradition. Doch in einer Hinsicht unterscheidet sie sich ganz deutlich: Zu jedem Säftetyp entwirft sie zwei verschiedene Bilder - je eines für den Mann und eines für die Frau. Uns erscheint das zwar einleuchtend, tatsächlich handelt es sich aber um eine Innovation (ohne Nachfolge!), und gern wüßten wir, was Hildegard dazu veranlaßt hat, die traditionellen Schemata umzugestalten.
Im einzelnen ist ihre Schilderung der jeweiligen männlichen und weiblichen Säftetypen dann nicht so streng durchgeführt, daß wir bei jedem einzelnen Zug Entsprechungen finden können. Zwei Bereiche werden aber durchgehend abgehandelt und bieten sich deswegen zum Vergleich an, nämlich der Körperbau und das sexuelle Verhalten.
Hinsichtlich des Körperbaus beschreibt Hildegard als wichtigste und deshalb durchgängig genannte Teile Fleisch, Adern und Blut sowie die Gesichtsfarbe. Nur hin und wieder sind daneben Haut- oder Augenfarbe und die Beschaffenheit der Knochen und Glieder angegeben.
Bei allen vier Männertypen wird das Gehirn charakterisiert: während es beim Choleriker stark und dicht ist, ist es beim Sanguiniker heiß, beim Melancholiker fett, beim Phlegmatiker schließlich fett, weiß und trocken. In ähnlicher Weise werden die äußeren Äderchen des Gehirns, die es umschließen - was immer wir uns darunter vorzustellen haben - nur bei den Männern beschrieben. Einen Zusammenhang zwischen Gehirn und Samenproduktion, wie er wiederum bei frühen griechischen Philosophen bezeugt ist, erwähnt Hildegard dabei nicht, doch könnte gerade hier der Schlüssel zum Verständnis liegen. Jedenfalls ist bei den Frauentypen stets angegeben, wie die Gebärmutter beschaffen ist, da das die Fruchtbarkeit unmittelbar beeinflußt.
Konstitutionelle Unfruchtbarkeit schreibt Hildegard zwei Typen zu, bei Männern dem Phlegmatiker und bei Frauen der Melancholikerin. Worin sieht sie die Gründe? Beim Phlegmatiker, führt sie aus, sei der Same dünn und ungekocht, zudem auch nur ein mäßiger Geschlechtstrieb und geringe Erektionsfähigkeit vorhanden - weshalb ihm auch andere Geschlechtsmerkmale, wie z. B. der Bart, fehlten -; bei der Melancholikerin sei die Ursache eine Schwäche der Gebärmutter, weshalb sie den Samen des Mannes weder zu umfassen (concipere!) noch zu halten oder zu erwärmen vermöge. Allerdings gebe es bisweilen trotzdem eine Möglichkeit, daß eine Melancholikerin Mutter eines Kindes werde: Wenn sie sich mit einem starken Sanguiniker als Ehemann verbinde und das 'starke' Alter von etwa 50 Jahren, in dem eigentlich die Menstruation endet, erreicht habe! Denkbar ist hier, daß die Hitze des Sanguinikers die Kälte der Melancholikerin ausgleicht, aber Hildegard geht darauf nicht näher ein. Ansonsten gibt sie leider keine Hinweise, welcher Frauentyp zu welchem Männertyp passe; möglicherweise war das für sie bereits vollkommen klar.
Wer mit wem?
Immerhin macht sie, von diesem einen Punkte abgesehen, detaillierte Aussagen über das Verhältnis zum anderen Geschlecht. Beginnen wir, wie Hildegard es tut, mit dem Choleriker.
In einer Verbindung mit Frauen sind Choleriker gesund und munter. Müssen sie hingegen auf weiblichen Umgang verzichten, vertrocknen sie in sich selbst. (Das erklärt sich dadurch, daß ihrer nach Aristoteles' Überzeugung heißen und trockenen Natur der notwendige Ausgleich durch die Feuchtigkeit und Kälte der Frauen fehlt.) In diesem Fall laufen sie umher, als seien sie dem Tode nahe; ihnen bedeutet sexuelle Enthaltsamkeit eine schwere Bürde. Falls es nun einen zwingenden Grund gibt, warum sie Frauen aus dem Weg gehen wollen, wie Schamgefühl, Angst oder die Liebe zu Gott - darunter fällt der geistliche Stand! -, dann sollen Choleriker Frauen wie Gift meiden und die Flucht vor ihnen ergreifen. Haben sie nämlich erst einmal einen Blick auf eine Frau geworfen, wird kaum irgendwelches Schamgefühl oder Selbstdisziplin sie bremsen können!
Ganz anders ist es bei den Sanguinikern. Hinsichtlich ihres Geschlechtstriebes sind sie das ganze Gegenteil der Choleriker: ihr Trieb ist der Natur nach eher windartig als feurig, und dieser starke Wind vermag bei ihnen das Feuer zu besänftigen und zu begrenzen, sodaß ihnen sexuelle Abstinenz möglich ist:
"Sie betrachten die Frauen mit schönen, nüchternen Augen, denn wo die Blicke anderer Männer [nämlich der Choleriker!] wie bohrende Pfeile sind, richten sie ihre Blicke auf die Frauen in Anstand, wie harmonische Musik (honeste symphonizant); wo anderer Männer Reden die Frauen wie ein ganz starker Wind treffen, haben ihre Reden beinah den Klang einer Harfe, und wo die Gedanken anderer Männer wie ein Sturmwind sind, heißen sie auf ehrsame Weise besonnene Liebhaber." (CC S. 72,30-36 Kaiser)
In anderer Hinsicht als die Choleriker sind die Sanguiniker auf Frauen angewiesen: Ohne Frauen können sie zwar leben, bleiben aber unbedeutend und trübe (ingloriosi), wie ein Tag ohne Sonne, doch in weiblicher Gesellschaft sind sie angenehm und heiter (iocundi), wie ein Tag bei strahlendem Sonnenschein.
Wenden wir uns den Melancholikern zu. Ihr Geschlechtstrieb setzt sich nach Hildegards Ansicht aus drei Komponenten zusammen, aus Feuer, Wind und dem Rauch der schwarzen Galle. Dieser letztere verhindert eine normale Liebesbeziehung, ruft aber zugleich eine maßlose Libido hervor. Hildegard vergleicht die Melancholiker deshalb zuerst mit Schlangen, wenig später mit Eseln und zuletzt mit reißenden Wölfen. Allerdings ist es notwendig, daß Melancholiker ihre Libido ausleben, sonst kommt es nämlich bei ihnen zu einer insania capitis oder frenesis, also Irrsinn und Raserei. Zum Teil haben sie überhaupt kein Interesse an Frauen und schätzen ihren Umgang nur aufgrund ihrer melancholischen Konstitution, hassen sie aber. Mit großer Gewalt und unvermittelt, wie ein plötzlicher Sturm, überfällt sie das sexuelle Verlangen; wenn sie könnten, würden sie die Frauen beim Liebesakt sogar töten (was Hildegard auf eine Einflüsterung des Teufels zurückführt).
Werfen wir kurz noch einen Blick auf den vierten und letzten männlichen Typ, die Phlegmatiker. Der Wind ihrer Lenden - damit bezeichnet Hildegard den Geschlechtstrieb und die Erektion - ist nur mäßig heiß, wie lauwarmes Wasser. Deshalb fehlt ihnen, wie bereits erwähnt, die reguläre Samenproduktion, der Bartwuchs und ähnliche männliche Attribute. Sie sind selbst schwach und lieben die Frauen, die ja ebenfalls nach damaliger Auffassung schwache Geschöpfe sind. In der Liebe zu den Frauen können sie sich ein wenig erwärmen und dann einen geringen Bart hervorbringen. Allerdings bleiben sie unfruchtbar.
Die Typologie der Frauen aus der Sicht Hildegards gestaltet sich etwas kürzer. Wir beschränken uns hier wiederum auf das Liebesleben.
Die Sanguinikerin ist ein Typ, der sozusagen auf Liebe eingestellt ist. Sie ist liebenswert, aber sie hat ihre Neigungen in der Gewalt. Bleibt sie ohne Ehemann und Kind, unterliegt sie leicht körperlichen Beschwerden; mit einem Ehemann dagegen ist sie gesund.
Die Phlegmatikerin wirkt auf die Männer anziehend: Sie laufen ihr nach und lieben sie. Dabei bringt es die Phlegmatikerin durchaus fertig, sollte das ihr Wunsch sein, ohne einen Mann zu leben, und zwar ohne besondere körperliche Beeinträchtigung. Freilich ist sie dann schwierig und ernst. In der Verbindung mit einem Mann hingegen erweist sie sich als in sexueller Hinsicht schwer zu zügeln, ganz wie die Männer. Ihr eignet nicht nur eine gewisse männliche Beherztheit, sondern wegen ihrer Vitalität sprießen ihr manchmal auch einige Barthaare am Kinn. (Wir wüßten gern, wie sich Hildegard erklärt, daß dem männlichen Phlegmatiker der Bart fehlt, der Phlegmatikerin aber wächst.)
Die Cholerikerin hat eine Art, die den Männern gefällt, und trotzdem gehen sie ihr lieber aus dem Weg, denn der Cholerikerin fehlt die Gabe, Männer durch Koketterie anzulocken. In einer ehelichen Verbindung ist sie züchtig und treu, körperlich gesund. Ohne Ehemann neigt sie zu körperlichen Beschwerden und Schwäche.
Ganz anders der letzte weibliche Typ, die Melancholikerin. Sie ist ohne einen Ehemann gesünder, stärker, fröhlicher, mit einem Manne hingegen leidend. Freilich laufen die Männer vor den Melancholikerinnen auch davon, und zwar deshalb, weil Melancholikerinnen die Männer nicht freundlich anreden. Außerdem ist ihre Liebe für die Männer gering, ebenso ihr sexuelles Verlangen.
Die Bilder der Säftetypen, die Hildegard entwirft, weisen so zahlreiche Züge auf, daß eine Darstellung, geschweige denn eine Erörterung, sehr viel mehr Raum in Anspruch nähme. Selbst die Aussagen zur Sexualsphäre, die vielleicht am meisten verwundern und die ich auch aus diesem Grunde herausgegriffen habe, ließen sich fortsetzen. Hildegard geht z. B. ausführlich auf die nach Säftetypen unterschiedliche Menstruation ein sowie auf die Krankheiten, die eine verfrühte Menopause auslösen kann.
Werfen wir zum Schluß noch einmal einen Blick auf die anthropologische Dimension der Aussagen Hildegards, deren Bedeutung größer ist als die mancher zeitgebundenen inhaltlichen Angabe. Hildegard, die Nonne und Vorsteherin eines Frauenklosters, stellt sich dem Problem der Sexualität des Menschen, ja es ist für sie eigentlich gar nicht ein 'Problem', sondern etwas Selbstverständliches, das zur Natur des Menschen gehört. Die körperliche Konstitution bestimmt die sexuellen Bedürfnisse und determiniert das sexuelle Verhalten. Die Sexualität von Mann und Frau wird ohne jene Prüderie betrachtet, die man dem von der Kirche geprägten Mittelalter gern unterstellt. Hildegards unbefangener Blick auf die menschliche Sexualität hat nichts von Voyeurismus, ein Verdacht, von dem andere Autoren, die ähnliche Details (auch in den Bußbüchern!) ausbreiten, oft nicht frei sind. Im Weltbild Hildegards von Bingen sind Mann und Frau Wesen, die aufeinander bezogen sind, die in ehelicher Gemeinschaft einander gehören und zueinander gehören. Eine solche Sichtweise steht außerhalb der damaligen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Sexualphysiologie aristotelisch-galenischer Prägung. Doch gerade deshalb kann uns die Begegnung mit dem Werk Hildegards, unabhängig von unserer eigenen weltanschaulichen Position, ein Anstoß sein, über den naturwissenschaftlich fundierten Bemühungen der klinischen Medizin die seelische oder geistige Komponente - oder wie immer wir diesen Bereich bezeichnen wollen - nicht zu vergessen.
Literaturhinweis:
Z. T. andere Aspekte und ältere Arbeiten findet man bei Sylvain Gouguenheim, La place de la femme dans la création et dans la société chez Hildegarde de Bingen, Revue Mabillon 63 (= nouv. série 2), 1991, 99-118. Eine neue kritische Ausgabe des lateinischen Originaltexts der Causae et curae von Laurence Moulinier, die in ihrem Buch Le manuscrit perdu à Strasbourg, Paris 1995, eine umfassende und bahnbrechende Studie der handschriftlichen Überlieferung des naturkundlich-medizinischen Werks Hildegards vorgelegt hat, soll im Juli 1998 beim Hugo-von-Sankt-Viktor-Institut in Frankfurt a. M. erscheinen.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. phil. Klaus-Dietrich Fischer, M.A.
Medizinhistorisches Institut der Johannes Gutenberg-Universität
Am Pulverturm 13
55131 Mainz
Aus: Ärzteblatt Rheinland-Pfalz, Ausgabe Mai 1998, S. 165-168
(Wiedergabe mit freundlicher
Genehmigung des Kirchheim-Verlags)