Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)
Reisen und Briefe
Auf der Trierer Synode (1147/48) war Hildegard in aufsehenerregender Weise von
Papst Eugen III. aus der Weltabgeschiedenheit ihres Klosters auf den Leuchter der
Weltöffentlichkeit gestellt worden. Männer und Frauen aller Stände des Volkes suchten
sie persönlich in ihrem Rupertsberger Kloster auf oder baten schriftlich um ihren Rat.
Über 300 Briefe sind überliefert, die sich an unterschiedliche Adressaten des In- und
Auslandes richten.
Einige Zeit nach der Trierer Synode wahrscheinlich nach Abschluß von Teil 11 des
»Scivias« - richtete Hildegard ein Schreiben an Papst Eugen III.
Hildegard an Papst Eugen
»0 milder Vater, ich armseliges Gebilde habe dir dies geschrieben in wahrhaftiger
Schau, im geheimnisvollen Hauch, so wie Gott es mich lehren wollte. 0 strahlender
Vater, als Papst kamst du in unser Land, wie Gott es vorherbestimmt hat, und nahmst
Einsicht in die Schriften, wie das lebendige Licht sie mich gelehrt. Du hörtest sie und
nahmst sie auf in dein Herz. Nun ist dieser Teil der Schrift beendet. Doch hat das
lebendige Licht mich nicht verlassen. Es brennt in meiner Seele, so wie ich es von
Kindheit an gehabt. Daher sende ich dir jetzt diesen Brief auf die wahrhaftige
Ermahnung Gottes hin.
Vater der Pilger, höre den, der da ist. Ein mächtiger König thronte in seinem Palast.
Hohe Säulen standen vor ihm, von goldenem Schmuck umwunden und mit vielen
kostbaren Perlen herrlich geziert. Dem König aber gefiel es, eine kleine Feder zu
berühren, daß sie sich in Wundern bewege. Und ein starker Wind trug sie, daß sie
nicht sinke ...
Hüte dich, diese Gottesgeheimnisse zu verachten. Denn sie sind notwendig mit jener
Notwendigkeit, die noch verborgen ist und noch nicht offen erscheint. Der süßeste Duft
sei in dir, und ermüde nicht auf dem geraden Wege.«
Hildegard zeichnet in diesem Brief in der ihr eigenen Symbolik ihr Selbstbildnis. Sie ist
die kleine Feder, die, getragen vom göttlichen Hauch, im Königspalast überirdische
Wunder schaut.
Aus dem Jahre 1152 ist ein Schreiben des Papstes an Hildegard erhalten.
Papst Eugen III. an Hildegard
»Eugen, Bischof, Knecht der Knechte Gottes, entbietet der in Christus geliebten
Tochter, der Vorsteherin von Sankt Rupert, Gruß und apostolischen Segen.
Wir freuen uns, Tochter, und jubeln im Herrn, weil dein ehrenvoller Ruf sich so in die
Weite und Breite ergießt, daß du für viele ein >Wohlgeruch des Lebens< (2. Kot 2,16)
bist und die Schar der Völker voll des Lobes über dich ausruft: >Wer ist die, die da aus
der Wüste gleich einer Rauchsäule aufsteigt?< (HI 3, 6). Wir sind daher der
Überzeugung, deine Seele erglüht so sehr vom Feuer der göttlichen Liebe, daß du
keines Anspornes zum Guten bedarfst. Deshalb erachten wir es für überflüssig, dir
noch viele ermahnende Worte zu sagen und deinen Geist, der sich ja ganz auf die
göttliche Kraft stützt, durch ermunternde Worte zu festigen.
Im übrigen: Was deine an uns gerichtete Bitte betrifft, so haben wir unserem
verehrungswürdigen Bruder, dem Erzbischof Heinrich von Mainz, folgende Weisung
gegeben: Entweder soll die Regel von jener Schwester, die du ihm überlassen hast, an
dem ihr übertragenen Ort streng beobachtet werden, oder er schicke sie unter die
Leitung deiner Zucht zurück. Das wird dir aus unserem Kanzleischreiben noch genauer
bekannt werden.«
Dieser Brief, ein Ausdruck hoher Anerkennung Eugens III., ist das Antwortschreiben
des Papstes auf eine Anfrage Hildegards und befaßt sich mit einer konkreten
Angelegenheit der Vorsteherin vom Kloster Rupertsberg. Richardis von Stade, ihre
bewährte Sekretärin und besonders geliebte geistliche Tochter, hatte die Meisterin
Hildegard bald nach dem Abschluß des Erstwerkes »Scivias« (1151) verlassen, da der
Konvent des Stiftes Bassum bei Bremen sie zur Äbtissin gewählt hatte. Gegen den
Wunsch und Willen Hildegards, aber mit Zustimmung des Erzbischofs Heinrich von
Mainz und anderer hoher Persönlichkeiten hatte sie die Wahl angenommen und war in
das nordische Stift Bassum gezogen, in die Nähe ihres Bruders, des Erzbischofs
Hartwig von Bremen. Hildegard suchte Richardis für ihr Kloster zurückzugewinnen. Ein
reger Briefaustausch der Rupertsberger Meisterin mit Richardis und mehreren
Personen, die ihre Übersiedlung befürwortet hatten, zeugt von der Bedeutung dieses
Ereignisses für Hildegard. Als ihre Bemühungen erfolglos blieben, wandte sie sich an
den Papst, der die Regelung dieser Angelegenheit dem Mainzer Erzbischof übertrug,
wie er am Schluß seines Schreibens an Hildegard vermerkt. Schon bald nach ihrer
Ankunft in Bassum erkrankte Richardis. Sie bereute ihr Fortgehen und faßte den
Entschluß, zu Hildegard und ihrem Kloster zurückzukehren, konnte aber ihren Vorsatz
nicht mehr ausfahren, da sie bereits am 29. Oktober 1152 starb.
Auch an den Nachfolger Eugens, Papst Anastasius IV. , richtete Hildegard trotz seiner
kurzen Regierungszeit ein längeres Schreiben. Der sittenstrenge, mildtätige Oberhirte
neigte als Achtzigjähriger zu sehr zur Nachgiebigkeit. In ihrem Brief rüttelt Hildegard
den obersten Lenker der Kirche aus dem Halbschlaf seiner Duldsamkeit und der
Ermattung seines Erkennens auf. Sie ermahnt ihn, das Böse bei den verdorbenen
Menschen nicht stillschweigend zu dulden. Ein richtungweisendes Schreiben sandte
Hildegard an den Nachfolger von Papst Anastasius, Hadrian IV. Dieser war ein
hochgebildeter Mann, hatte eine bedeutsame Laufbahn hinter sich und besaß
hervorragende Gaben des Geistes und des Herzens. Trotz erheblicher Schwierigkeiten
von seiten der Römer krönte er Friedrich 1. am 18. Juni 1155 in St. Peter zum Kaiser.
Es kam jedoch zu immer größeren Spannungen zwischen den beiden höchsten
Herrschern in Kirche und Reich. Wie ihr Brief an Hadrian zeigt, hat Hildegard um diese
Differenzen gewußt und Stellung dazu genommen.
Nach dem Tod Hadrians, am 1. September 1159, brach ein achtzehnjähriges Schisma
aus, herbeigeführt durch Friedrich Barbarossa, der nacheinander drei Gegenpäpste
gegen den rechtmäßig gewählten Papst Alexander 111. aufstellte. Es ist bezeichnend,
daß Hildegard mit keinem der drei Gegenpäpste in brieflicher Verbindung stand.
An Papst Alexander wandte sich Hildegard mit einem Anliegen ihrer klösterlichen
Gemeinschaft. Sie bat den Papst nach dem Tod ihres Propstes und Sekretärs Volmar
(1173), einen geeigneten Mönch vom Kloster Disibodenberg für ihr Rupertsberger
Kloster bestellen zu lassen. Der Papst übertrug die Regelung der Angelegenheit dem
Neffen Hildegards, Propst Wezelin von St. Andreas in Köln. Dieser sorgte dafür, daß
der Mönch Theoderich vom Disibodenberg die Aufgabe übernahm. Theoderich ist auch
der Verfasser des 1. Buches der Hildegard-Vita. Er starb aber bereits 1174 oder 1175.
Auch mit weltlichen Herrschern stand Hildegard in brieflicher Verbindung. So wandte
sich König Konrad III. nach dem mißglückten zweiten Kreuzzug in einem Schreiben an
Hildegard. Er hatte von ihrem erleuchteten Geist gehört und bat sie um ihr Gebet und
ihren Rat in seiner äußerst mißlichen Lage. In ihrem Antwortbrief legt Hildegard ihm
das Auf und Ab der Zeitläufe dar und ermahnt den Herrscher, sich aufzuraffen und
nicht seinem Eigenwillen zu folgen.
An den Nachfolger Konrads, Friedrich Barbarossa, der das deutsche Kaisertum zu
höchstem Ansehen bringen sollte, richtete Hildegard vier Briefe.
Ihr erster Brief ist ein Begrüßungs- und Glückwunschschreiben an König Friedrich nach
seiner feierlichen Salbung und Krönung in Aachen (9. März 1152), eine Art
»Fürstenspiegel«.
Bald nach seiner Krönung zum Kaiser durch Papst Hadrian IV. in Rom (1155) sandte
Barbarossa ein Schreiben an Hildegard, das erhalten ist. Er erwähnt darin seine
Begegnung mit ihr in der Kaiserpfalz Ingelheim, wohin er sie bestellt hatte. Der Inhalt
des Gespräches ist uns nicht bekannt. »Das, was du uns vorausgesagt hast, halten wir
bereits in Händen«, schreibt der Kaiser und empfiehlt sich und seine Aufgaben dem
Gebet der Klosterfrauen.
Das zweite Schreiben Hildegards, das in einem freundlichen Ton abgefaßt ist, könnte
ihr Dank gewesen sein für die auf dem Hoftag in Mainz von ihm übernommene
Schutzherrschaft für ihr Rupertsberger Kloster und die am 18. April 1163 ausgestellte
Schutzurkunde. Die Äbtissin stand zu dieser Zeit dem Schisma noch abwartend
gegenüber. Sie stellt dem »Diener Gottes« das hohe Richter- und Lenkeramt vor
Augen. Mit der Gerechtigkeit soll er die Barmherzigkeit verbinden. Zum Schluß
verspricht sie ihm das Gebet: es möge ihm ein Gott wohlgefälliger Erbe geschenkt
werden.
Nach Aufstellung des dritten Gegenpapstes durch den Kaiser bezog Hildegard in ihrem
dritten Brief eindeutig Stellung zum Schisma und bekannte sich zu Papst Alexander III.
Dies um so mehr, als Barbarossa Konrad von Wittelsbach von seinem erzbischöflichen
Sitz in Mainz vertrieben und über diese Stadt die Acht verhängt hatte. Sie schrieb in
allem Freimut: »... Gib acht, daß der höchste König dich nicht zu Boden streckt ...
!«
Von schneidender Schärfe war der vierte Brief Hildegards an Barbarossa. Sie stellte
ihm das Gottesurteil vor Augen: »... Wehe, wehe diesem bösen Tun der Frevler, die
mich [Gott] verachten! Dies höre, König, wenn du leben willst! Sonst wird mein Schwert
dich durchbohren!«
Mit diesem Drohbrief war das Ende der Verbindung zwischen Hildegard und dem
Kaiser gegeben.
Auch mit Verwandten von Barbarossa stand Hildegard in Korrespondenz sowie mit
König Heinrich II. von England, der in Friedrich 1. sein Herrscherideal sah, und mit
seiner Gemahlin, Königin Eleonore. Hildegard kannte die jeweilige Situation der
Briefpartner. Immer war sie die kluge, einfühlsame Frau, die ermutigte und tröstete,
aber auch die Prophetin, die nicht davor zurückschreckte, Männern und Frauen, auch
fahrenden Persönlichkeiten, Unziemlichkeiten und Fehlverhalten vor Augen zu stellen
und ihnen den rechten Weg zu weisen.
Zu den Adressaten ihrer Briefe gehörten zahlreiche Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen,
Mönche, Nonnen und Weltleute. Ihre Briefe sind Antwortschreiben, in denen sie
einging auf persönliche Schwierigkeiten und Nöte der Schreiber. Man muß die
jeweiligen Quellen als historischen Hintergrund einbeziehen, um deutlicher zu sehen,
mit welcher Spannkraft und heiligen Leidenschaft sich die Äbtissin vom Rupertsberg
den Fragen und Anliegen ihrer Briefpartner zuwandte.
Der politisch äußerst aktive Erzbischof Philipp von Köln bat sie dringend, ihm
»ermahnende Worte zu senden«. In dem ausführlichen Antwortschreiben heißt es: »...
Verbirg dein Licht - das heißt: die Worte deiner Gerechtigkeit - nicht vor deinen
Untergebenen. Denn oft sprichst du in deinem Herzen: >Würde ich meine
Untergebenen durch meine Worte in Schrecken versetzen, so wäre ich ihnen lästig.
Überzeugen kann ich sie ja doch nicht. Könnte ich mir doch durch Schweigen ihre
Freundschaft erhalten!< So zu reden ziemt sich nicht! Was nun? Wegen deines
bischöflichen Namens und adligen Geschlechtes sollst du sie nicht mit
furchterregenden Worten erschrecken, gleich einem räuberischen Habicht, und nicht
mit Drohworten auf sie dreinschlagen wie mit einer Keule. Mische vielmehr die Worte
der Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit und salbe die Menschen mit Gottesfurcht. Stelle
ihnen vor Augen, wie verderblich die Bosheit für ihre Seelen und ihre Glückseligkeit ist.
Bestimmt, ganz bestimmt: dann werden sie dir Gehör schenken.«
An viele Klöster richtete Hildegard ihr mahnendes oder tröstendes Wort. Besonders
zahlreich sind die Schreiben der Zisterzienser an Hildegard. Sechzehn Anfragebriefe
dieses Ordens liegen vor, vierzig Schreiben sandte Hildegard an Angehörige dieses
Reformordens (Angaben von Abt Bernhard Kaul 0.Cist. von Hauterive, Schweiz).
Auch mit vielen Benediktiner- und Benediktinerinnenklöstern stand Hildegard in
Verbindung. Den Mönchen von Zwiefalten verspricht sie ihre Fürbitte. »Ich bitte Gott,
daß seine Gnade in jeder Lage mit euch sei und daß er euch schone in seiner milden
Vatergüte.«
Alle, die ein Vorsteheramt zu verwalten hatten, warnte Hildegard vor Härte und empfahl
ihnen Barmherzigkeit und Maßhaltung (moderatio). Abt Manegold von Hirsau tröstete
sie in seiner Not: »Sei ohne Angst, denn du bist ein Gefäß des Feuergeistes. Auch
deswegen fürchte dich nicht, daß du zuweilen Trübsal und Bedrängnis auszustehen
hast: denn der Sohn Gottes hat Gleiches erlitten.«
Mit dem Briefwechsel Hildegards sind vier größere Reisen verbunden, die sie, wie die
Vita berichtet, »vom göttlichen Geist nicht nur angetrieben, sondern genötigt«,
unternahm. Um 1158 reiste sie nach Mainz, von dort nach Wertheim und fuhr über
Kitzingen nach Ebrach und Bamberg. 1160 predigte Hildegard öffentlich in Trier und
fuhr dann weiter nach Metz und Krauftal (bei Zabern). Auf ihrer dritten Reise (zwischen
1161 und 1163) kehrte sie bei ihren Korrespondenten in Boppard, Andernach und
Siegburg ein. In Köln sprach sie öffentlich vor Klerus und Volk. Ihre Predigt, ein
Beispiel für ihr öffentliches Auftreten, ist erhalten, da der Domdekan Philipp von
Heinsberg, der spätere Erzbischof dieser Metropole, sie dringend um die Zusendung
gebeten hatte. Die Prophetin hatte hier nicht mit Vorwurf und Tadel gespart. »Ihr seid
eine Nacht, die Finsternis ausatmet, und wie ein Volk, das nicht arbeitet. Ihr laßt euch
durch jeden dahinfliegenden weltlichen Namen lahmlegen. Ihr liegt am Boden und seid
kein Halt für die Kirche, sondern ihr flieht in die Höhle eurer Lust. Und wegen eures
ekelhaften Reichtums und Geizes sowie anderer Eitelkeiten unterweist ihr eure
Untergebenen nicht. Ihr solltet eine Feuersäule sein, den Menschen vorausziehen und
sie aufrufen, gute Werke zu tun ... «
Die vierte Reise führte Hildegard (1170/71) zu den schwäbischen Klöstern Maulbronn
Hirsau und Zwiefalten, mit denen sie seit Jahrzehnten im Briefwechsel stand.
Das große Anliegen der Prophetin Hildegard, das sie zu diesen Predigtreisen drängte,
war die Reform der Kirche und all ihrer Glieder, vor allem derer, die ein Amt
innehatten.
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