Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)

1179

Das letzte Lebensjahr der Rupertsberger Äbtissin war überschattet von einer schmerzlichen Prüfung, die aber das Charisma der Seherin und Prophetin sowie den Starkmut der 82jährigen Frau in einzigartiger Weise offenbart: es ist das über sie und ihr Kloster im Jahr 1179 verhängte Interdikt.
Hildegard hatte einen ehemals exkommunizierten Edelmann, der sich vor seinem Tode wieder mit der Kirche ausgesöhnt hatte, auf ihrem Klosterfriedhof beisetzen lassen. Als dies dem Mainzer Domkapitel bekannt wurde, erhielt Hildegard die Weisung, die Leiche des Mannes aus dem Friedhof entfernen zu lassen; im Weigerungsfall sollte sie mit ihrem Kloster mit dem Interdikt belegt werden. Das bedeutete: Verzicht auf die öffentliche Eucharistiefeier und den Kommunionempfang sowie auf den öffentlichen Vollzug des göttlichen Offiziums in der Klosterkirche.
Die unerwartete Verfügung traf Hildegard und ihre Schwestern aufs schmerzlichste. Doch ließ sich die Äbtissin nicht beirren. In ihrer Schau hatte sie erkannt, daß es für den Toten eine unverdiente Schmach gewesen wäre, hätte sie die Leiche aus der Erde entfernen lassen, da er sich ja mit der Kirche ausgesöhnt und den Leib des Herrn empfangen hatte. Mit ihrem Äbtissinnenstab machte sie die Grenzen des Grabes unkenntlich. Das Interdikt mit allen Konsequenzen nahm sie auf sich und gehorchte damit der Kirche, das heißt: den kirchlichen Behörden. Dann aber kämpfte sie um ihr Recht, mehr noch um das Recht des Toten. Ein ausführliches Schreiben über die Rechtslage sandte sie an das Mainzer Domkapitel und stellte den Prälaten den hohen Wert des Gotteslobes vor Augen, das sie ihr und ihrem Konvent ungerechterweise entzogen hatten. Diese Darlegungen gehören zu dem Schönsten, was Hildegard über Ton und Klang, Gesang und Gotteslob geschrieben hat. Zum Schluß betonte sie: »Diejenigen, die der Kirche in bezug auf das Singen des Gotteslobes Schweigen auferlegen [durch das Interdikt], werden, da sie auf Erden das Unrecht begingen, Gott die Ehre des ihm zustehenden Lobes zu rauben, keine Gemeinschaft haben mit dem Lob der Engel im Himmel, wenn sie das nicht durch wahre Buße und demütige Genugtuung gutgemacht haben.«
Das Interdikt war während der Abwesenheit des Mainzer Erzbischofs Christian, der vom 5. bis 19. März auf dem 3. Laterankonzil in Rom weilte, über Hildegards Kloster verhängt worden. Als Hildegards Einspruch bei dem Mainzer Domkapitel ungehört blieb, nahm sie durch ein Schreiben die direkte Verbindung mit dem Oberhirten auf. Nach einer nochmaligen Untersuchung des Rechtsfalles wurde dann das Interdikt, bei dem sich Charisma und Amt gegenübergestanden hatten, aufgehoben. Trotz ihres hohen Alters hatte die Rupertsberger Äbtissin diese Spannung glaubensstark durchgetragen, weil sie sich dem Charisma der Schau und ihrer Prophetie verpflichtet wußte.
Am 17. September 1179 war für Hildegard das Ende ihres irdischen Lebens gekommen. Bei ihrem Heimgang wurde am Himmel eine Lichterscheinung über ihrem Sterbezimmer gesehen, wie die Vita berichtet. Die Seherin durfte eingehen in die unverhüllte Schau des lebendigen Lichtes.

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