Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)

Liber divinorum operum

Nach der Fertigstellung des »Liber vitae meritorum« verfaßte Hildegard in den Jahren 1168 bis 1173/74 ihre dritte Visionsschrift, den »Liber divinorum operum«, auch »De operatione Dei« genannt, dem der Übersetzer Heinrich Schipperges den Titel »Welt und Mensch« gab. In dieser Schrift werden Welt und Mensch in inniger Bezogenheit zueinander und zum Schöpfergott geschaut.
Die Inspiration zu dieser großartigen, ja reifsten Visionsschrift empfing Hildegard bei der Meditation des Prologs zum Johannes-Evangelium: Im Anfang war das WORT (Joh 1, 1) usw. In ihren biographischen Notizen schreibt sie: »jedes Wort dieses Evangeliums, das vom Anfang des Wortes Gottes handelt, lehrte mich diese Schau und ließ es mich auslegen. Und ich sah, daß die Auslegung der Anfang einer anderen Schrift sein müßte, die noch nicht offenbar geworden war. In ihr sollten viele Fragen der göttlich-geheimnisvollen Schöpfung untersucht werden.«
Diese Auslegung des Prologs bildet bezeichnenderweise den markanten Abschluß von Teil I des »Liber divinorum operum« und nimmt somit eine Schlüsselstellung in dieser Kosmosschrift ein, die in drei Teile mit insgesamt zehn Visionen gegliedert ist. Im ersten Teil, der vier Visionen enthält, wird der Mensch in seinen vielfachen Beziehungen und seiner engen Verbundenheit mit dem Kosmos gesehen.
Hildegard schaut in der ersten Vision den ganzen Kosmos. Ziel der Schöpfung ist das menschgewordene WORT des Vaters. Daher die zentrale Stellung des Menschen im Weltall: geistig-leiblich trägt er den Kosmos in sich.
Sie schaut den Menschen, aufrecht stehend, mit ausgebreiteten Armen, mit seinen Gliedmaßen reicht er in die verschiedenen Kosmoskreise hinein. Von ihnen wird er gestützt, getragen, ernährt. Die Kosmoskreise und das Menschenkreuz stehen in Spannung zueinander und bilden eine Spannungseinheit. Wie in einem Netz hält der Mensch, das plenum opus Dei, das vollkomrnene Werk Gottes, alle Kosmoskräfte zusammen. Kosmos und Mensch werden umspannt von einer großen Gestalt: vom trinitarischen Schöpfergott, der caritas (Liebe).
Und die Gestalt sprach:
»Ich, die höchste feurige Kraft, entzünde alle Lebensfunken. Nichts Tödliches sprühe ich aus. Ich entscheide das Sein. Mit meinen Flügeln umfliege ich den Erdkreis; denn ich habe ihn mit der Weisheit richtig geordnet. Ich, das feurige Leben der Gottwesenheit, flamme über die Schönheit der Felder, ich leuchte in den Wassern, brenne in der Sonne, im Mond und in den Sternen. Und mit luftigem Wind - gleichsam wie mit unsichtbarem Leben, das alles erhält - erwecke ich alles zu gewaltigem Leben. Luft lebt im Grünen und Blühen. Die Wasser fließen, als ob sie lebten. Und auch die Sonne lebt in ihrem Licht... Die Säulen, die den Erdkreis tragen, habe ich errichtet... Ich, die feurige Kraft, ruhe in all diesen verborgen. Sie alle brennen durch mich, so wie der Hauch, die Seele, den Menschen ständig belebt und bewegt, gleich wie die im Feuer wehende Flamme. Sie alle leben in ihrer Wesenheit. Nichts Totes wird in ihnen erfunden. Denn ich bin das Leben.«
In den letzten Kapiteln von Teil 1 bringt Hildegard eine ausführliche Interpretation des Prologs vom Johannesevangelium mit dem Kerngedanken »Gottes WORT in der Welt«.
Die fünfte Vision, Teil II, ist eine Schau in die jenseitige Welt.
Im dritten Teil, der die Visionen sechs bis zehn umfaßt, richtet die Seherin ihren Blick auf Gott, den Allherrscher. Er lenkt die Geschicke der Schöpfung, er ist der souveräne Herr (sechste Vision). Die siebte Vision bringt den Ablauf der Zeit und der Geschichte zur Darstellung, und zwar als Heilsgeschichte: letztlich ist Christus der Herr der Zeit und der Geschichte. Die Schöpfung des Kosmos, die Prophetie und die Inkarnation sind durch die verschiedenen Stufen der Offenbarung Gottes innerlich miteinander verbunden. Durch den Logos entstand die Welt; durch die Propheten ließ sich der Erlöser vorherverkünden, bis er selbst im Fleische erschien und durch seine Menschwerdung den Grund zur Erlösung legte. Die achte Vision zeigt das große Geschehen in der Fülle der Zeit: das Eintreten des Logos in den Kosmos. Er offenbart sich in der Gestalt der caritas (Liebe), der pax (Friede) und der humilitas (Demut). Durch die sapientla (Weisheit) und omnipotentia (Allmacht) wird das Wirken Gottes in der neunten Vision dargestellt. Mit dem Blick auf die Parusie Christi schließt die gewaltige Kosmosschau der Seherin in der zehnten Vision. Anfang, Mitte und Ende des Weltalls ist Christus, der am Ende von Raum und Zeit in der überwältigenden Offenbarung seiner Herrlichkeit erscheint.
Hildegard hatte das Werk noch nicht zum Abschluß gebracht, als ihr langjähriger Sekretär Volmar 1173 starb. In ihrem Leid über den großen Verlust wandte sie sich an den ihr befreundeten Abt Ludwig von St. Eucharius/St. Matthias in Trier und bat ihn um seine Mithilfe. Daraufhin beteiligte sich Abt Ludwig mit seinen Mönchen an der Fertigstellung des Werkes. In einer Handschrift (Hs. 2, dem sogenannten Riesenkodex, in der Hessischen Landesbibliothek in Wiesbaden) ist im Anschluß an den Epilog des Liber divinorum operum ein Wort Hildegards wiedergegeben, das ihren Dank an jene zum Ausdruck bringt, die ihr bei der Abfassung des Werkes geholfen und sie getröstet haben: »... Und ich armselige Frau, belehrt in dieser Schau, sprach: Schenk all denen, die mir durch ihren Trost beistanden bei diesen Schauungen, die du mir von Kindheit an eingeprägt hast und an denen ich mich mit großer Furcht mühte, den Lohn ewiger Herrlichkeit im himmlischen Jerusalem, so daß sie sich durch dich ohne Ende in dir freuen!"

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