Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)

Liber vitae meritorum

Nach Beendigung ihrer Naturkunde und der Heilkunde fertigte Hildegard ihre zweite große Visionsschrift, den »Liber vitae meritorum«, das Buch der Lebensverdienste, an der sie von 1158 bis 1163 arbeitete. Der Übersetzer Heinrich Schipperges gab diesem Werk den bezeichnenden Titel »Der Mensch in der Verantwortung«. Wenn man »Scivias« eine Glaubenskunde genannt hat, so kann man den »Liber vitae meritorum« eine Lebenskunde, ein Lehrbuch der Ethik, nennen. In höchst originellen Bildern und Aussagen von theologischer Tiefe werden das Gute und Böse, das Sittliche und Sittenlose im Menschen ins Wort gebracht. In diesen Bildern und Reden kann sich auch der heutige Mensch wie in einem Spiegel wiederfinden und sich damit konfrontieren. Er kann sich sehen als abscheuliches Zerrbild oder als liebenswerte Gestalt von starker Anziehungskraft. Mehr noch als die übrigen Werke zeigt der »Liber vitae meritorum« die erstaunliche Menschenkenntnis und Darstellungskunst der Rupertsberger Äbtissin.
Fünfunddreißig Paare von Tugenden und Lastern treten als Gegensatzpaare auf. Es ist charakteristisch, daß nur die Laster in ihrem inhumanen Aussehen sehr differenziert dargestellt werden. Sie haben oft das Aussehen von Tieren oder sind teils Mensch, teils Tier und führen ichsüchtige, frevelhafte Reden. Die ihnen entgegengesetzten Tugenden, die in bezug auf ihr Äußeres nicht beschrieben werden, geben den Lastern Antwort auf ihre greulichen Reden. Hier ist jedes Wort präzise, ausgewogen und Ausdruck göttlicher Eingebung.
Greifen wir ein Gegensatz-Paar heraus: die Maßlosigkeit (immoderatio). »Die Gestalt sah aus wie ein Wolf. Mit gekreuzten Beinen hockte sie auf ihren Füßen und lauerte überall umher, um alles, was sie nur packen konnte, an sich zu reißen. Und sie sprach:
>Was immer ich nur wünschen und suchen kann, das will ich auch genießen. Ich habe gar keine Lust, mich zu enthalten. Warum sich enthalten, wenn einem dies nichts einbringt? Sollte ich etwa vergessen, was ich bin, da doch jedes Wesen auf seine Eigenart pocht? Wollte ich so leben, daß ich kaum atmen könnte, was wäre mein Leben dann noch wert? Was mir an Spiel und Lust entgegenkommt, das will ich auch packen. Meine Adern sprossen vor Lust: sollte ich da zur Ader lassen? Und wenn mir das Reden liegt, soll ich mich da zum Schweigen verurteilen? Wird mir doch jeder Reiz des Leibes eine Lust! Und wie ich geartet bin, so lebe ich mich aus. Ein jedes Geschöpf wächst nach seiner Natur, und wie es ihm paßt, so handelt es auch.<
Und wiederum hörte ich aus der Sturmwolke eine Stimme dieser Gestalt antworten. Die Maßhaltung (discretio) antwortet: >0 du, Spionin im Hinterhalt! Alles, was in der Vernunft ehrenvoll dasteht, das kränkst du durch deine Hinterlist. Du benimmst dich wie die jungen wilder Tiere, die kein Maß kennen, und handelst wie das schmutzige Vieh. Denn alles, was in der Satzung Gottes steht, antwortet einander. Die Sterne funkeln vom Licht des Mondes, und der Mond leuchtet vom Feuer der Sonne. Jedes Ding dient einem Höheren, und nichts überschreitet sein Maß. Du aber nimmst weder auf Gott Rücksicht noch auf seine Geschöpfe. Du hängst vielmehr in der Luft wie eine leere Scheide, die im Winde baumelt. Ich aber wandle auf den Pfaden des Mondes und in den Bahnen der Sonne. Ich achte auf jede Satzung Gottes, und mit allen Dingen wachse ich in ehrenvoller Gesittung. Ich zähle sie alle in Liebe voll und ganz. Denn ich bin im Palaste des Königs eine Fürstin und erforsche alle seine Geheimnisse. Nichts lasse ich ungenutzt, sondern fasse alles zusammen. Ich habe alles sehr lieb und leuchte mit allem wie der Strahl der Sonne. Du aber reibst dich auf bei deiner Haltung und wirst der Würmer Fraß.,
Andere Gegensatz-Paare
Schlemmerei (ingluvies ventri)
- Enthaltsamkeit (abstinentia)
Engherzigkeit (acerbitas)
- Freigebigkeit (vera largitas)
Gottlosigkeit (impietas)
- Frömmigkeit (pietas)
Lüge (fallacitas)
Wahrheit (veritas)
Streitsucht (contentio)
- Friede (pax)
Schwermut (infelicitas)
- Seligkeit (beatitudo)
Wollust (luxuritas)
- Keuschheit (castitas)
Hildegard gibt auch die Strafen und die Buße für viele Vergehen an. Sie nimmt Stellung zur Abtreibung. Darüber schreibt sie: »Frauen, die das keimende Leben in ihrem Schoße erstickt haben und die stoffliche Voraussetzung für einen werdenden Menschen zugrunde gehen ließen, sollen ein hartes Fasten und rauhe Hiebe über sich ergehen lassen.« Sie unterscheidet die einzelnen Strafen für den Mord aus Zorn, aus Habsucht und aus Notwehr und gibt die Strafe für den Mord durch Vergiftung an. Doch soll bei der aufzuerlegenden Buße auch die begrenzte Leistungsfähigkeit und die Schwäche der menschlichen Natur berücksichtigt werden. Hildegard fügt hinzu»Selig der Mensch, der die Reue über seine Sünden in sich trägt, um sie dem Richter dieses wie jenes Lebens anzubieten. Denn die Buße, die in diesem Leben reumütiger Zerknirschung begonnen wird, bleibt aufbewahrt für das ewige Leben in Herrlichkeit.«
Nachdem Hildegard auch die Freuden des Himmels geschaut und beschrieben hat, hört die Seherin zum Schluß der großen Schau eine Stimme vom Himmel: »Der Mensch, der dies schaut und im Schreiben wiedergibt, sieht und sieht doch nicht; er spürt das Irdische und doch wieder nicht. Er trägt Gottes Wunderdinge nicht aus sich selbst vor, ist vielmehr davon ergriffen, wie eine Saite vom Spieler ergriffen wird, die ihren Ton nicht aus sich wiedergibt, sondern aus dem Griff eines andern.« Hier spricht Hildegard als die von Gott in Dienst genommene Seherin und Prophetin, die wiedergibt, was sie empfangen.

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