Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)

Liber simplicis medicinae et Liber compositae medicinae

Nach Abschluß ihres großen Werkes »Scivias« wandte sich Hildegard anderen Gebieten zu. Sie verfaßte in den Jahren 1152 bis 1158 eine Naturkunde, den »Liber simplicis medicinae« oder die »Physica«, sowie eine Heilkunde, den »Liber compositae medicinae«, auch »Causae et curae« genannt. Beide Werke gehören nicht zu den Visionsschriften.
Leider sind keine zeitgenössischen Handschriften von ihnen vorhanden. Die Kodizes gehören dem 13. bis 15. Jahrhundert an und bedürfen der kritischen Edition. Erst nach deren Erarbeitung können die Naturkunde und die Heilkunde für die Ernährungswissenschaft und für die Medizin ausgewertet werden.
Schon im »Scivias« belehrt Hildegard die Menschen mehrfach durch originelle Vergleiche aus der Natur. »Mücken und Ameisen und die übrigen kleinen Tiere verlangen nicht, über ihresgleichen zu herrschen oder Kraft und Sinn des Löwen zu verstehen. Wieviel weniger kannst du [o Mensch] erkennen, was im Wissen Gottes ist!«
Die sie umgebende Natur hat Hildegard genau beobachtet, geliebt, sich an ihr erfreut und ihre persönlichen sowie die ihr mündlich oder schriftlich vermittelten Erkenntnisse aufgezeichnet. Die Naturkunde enthält neun Bücher mit 513 Kapiteln oder Einzelbeschreibungen. In dem Buch der Medizinhistorikerin Irmgard Müller sind die pflanzlichen Heilmittel vorbildlich dargestellt und soweit wie möglich ausgewertet (»Die pflanzlichen Heilmittel bei Hildegard von Bingen«).
Hervorragend sind Hildegards Kenntnisse von den einheimischen Fischen, die sie am Disibodenberg, wo der Glan in die Nahe fließt, und am Rupertsberg bei der Mündung der Nahe in den Rhein gut beobachten konnte. »Das Buch über die Fische ist die originellste Aufzeichnung auf dem Gebiet der Tierkunde des Mittelalters«, urteilt ein Fachmann. »Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat niemand die Fischfauna so genau beobachtet wie Hildegard von Bingen« (H. Fischer). Sie schreibt z. B. : »Der Hecht hält sich gern in der mittleren Tiefe reiner Gewässer auf. Er liebt den Tag und ist scharf und grimmig wie ein wildes Tier. Wo er sich aufhält, frißt er die Fische und leert so das Wasser von den anderen Fischen. Er ist schwachen und gesunden Menschen zuträglich.«
Wenn ihr die lateinischen Bezeichnungen von Pflanzen und Tieren nicht bekannt waren, bezeichnete Hildegard sie mit den ihr geläufigen mittelhochdeutschen Namen. So ist die Naturkunde auch für den Germanisten von besonderem Interesse.
Mit der Naturkunde ist die Hellkunde eng verbunden. Hier hat Hildegard auch ihre persönlichen Erfahrungen eingebracht, denn zeitlebens war sie von geschwächter Gesundheit. Die Vita berichtet: »Beinahe von Kindheit an hatte Hildegard fast ständig an schmerzlichen Krankheiten zu leiden. Und da ihr ganzer Körper ununterbrochenen Schwankungen unterworfen war, glich ihr Leben dem Bild eines kostbaren Sterbens. Was aber den Kräften des äußeren Menschen fehlte, das wuchs dem inneren durch den Geist der Weisheit und Stärke zu.«
So ist es nicht erstaunlich, daß Hildegard die Menschen in ihrer jeweiligen körperlich- geistigen Eigenart und Einmaligkeit ernst nimmt und ihnen zu helfen sucht. Ihr heilkundliches Wissen kann aber auch durch medizinisches Schrifttum oder durch mündlich mitgeteilte Erkenntnisse und Erfahrungen erweitert worden sein. »Hildegards Krankheitsauffassung wurzelt in der Welt des jungen Abendlandes, ihre Geisteslehre quillt aus der Kraft des christlichen Glaubens. Bei allem zeitlichen Verhaftetsein in der Welt wird der Mensch vom Absoluten her gesehen und bei aller sinnlichen Leibhaftigkeit immerfort in Gänze geschaut«, schreibt der Medizinhistoriker H. Schipperges. Doch muß die Hellkunde auch auf dem Hintergrund des gesamten Schrifttums der Rupertsberger Äbtissin gesehen werden.
Hildegard sieht den Menschen, sei er gesund oder krank, eingebunden in den Kosmos, der mit seinen Kräften gehalten wird vom dreifaltigen Schöpfergott. Diese ganzheitliche Sicht Hildegards kommt in der Gliederung der Heilkunde zum Ausdruck. Sie spricht von der Schöpfung der Welt, vom ewigen Ratschluß des Vaters, der den Menschen nach dem Sündenfall durch sein menschgewordenes Wort erlöste. Sie beschreibt die vier Welt-Elemente und das Werden des Menschen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sie auf das Wachen und Schlafen. Sie sieht die Beziehungen zwischen körperlicher und seelischer Verfaßtheit. Angst, Zorn oder auch übergroße Freude können dem Menschen das Einschlafen erschweren. Erst wenn er in seinem Gemütszustand mit seinen Angelegenheiten wieder in Übereinstimmung kommt, erhalten die Gefäße das rechte Maß zurück: dann schläft der Mensch ein. Sodann geht Hildegard den Krankheiten vom Kopf bis zum Fuß nach. Sie befaßt sich mit dem Gehen und Stehen und Reiten, mit der Ernährung und der Verdauung, mit den Gemütsbewegungen und Stoffwechselstörungen und gibt Anweisungen über eine gesunde Lebensführung. Hier ist die discretio, die Gabe der Unterscheidung, der Maßhaltung, wie auch das Verhalten des Arztes dem Patienten gegenüber von zentraler Bedeutung. Eine gesunde, maßvolle Lebensführung ist nach Hildegard die beste Vor-Sorge. Die durch die Benediktusregel mit ihrer Maßhaltung geformte Äbtissin spricht in ihrer Heilkunde aus eigener und fremder Erfahrung.

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