Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)

Scivias

Zehn Jahre arbeitete sie an ihrem 1141 begonnenen Werk »Scivias«, wie sie im Vorwort, das sie dieser Schrift voranstellte, mitteilt.
Das aus drei Teilen (Partes) bestehende Werk ist sozusagen eine Glaubenskunde und stellt das gesamte Schöpfungs- und Er1lösungswerk bis zum jüngsten Gericht dar. - Alles Irdische ist Zeichen, Symbolträger, Hinweis auf Übersinnliches, Transzendentes, die ganze Schöpfung weist hin auf den dreifaltigen Schöpfergott.
Die Dreizahl signifiziert die Trinität (Chr. Meier).
Der 1. Teil mit sechs Visionen ist auf Gott Vater bezogen, er stellt die Schöpfung und den Fall der Engel und der Menschen dar. Luzifer und sein Anhang fielen nach ihrer Auflehnung gegen den Schöpfer in den dunklen Abgrund. Der Mensch hatte nach seinem Sündenfall die Folgen seiner Rebellion zu tragen: die Neigung zum Bösen, zur Sünde. Mensch und Kosmos gerieten aus der constitutio in die destitutio. Es erhebt sich nun die quälende Frage: Wer wird den Menschen erlösen? In der sechsten Vision schaut die Seherin auf zu den leuchtenden Chören der Engel, die in Form von Kränzen den Thron Gottes umgeben und »in ) jeglicher Art von Musik in wunderbaren Harmonien die Wunder Gottes künden, die Gott in heiligen Seelen wirkt«. Aber auch sie, die treugebliebenen Engel, können den Menschen nicht erlösen.
Der II. Teil stellt in sieben Visionen das Erlösungswerk dar und ist Gottes Sohn zugeordnet. Nach der Darstellung der Schöpfung und ihrem Fall durch Adams Ungehorsam wird nun die Erlösung durch Christus aufgezeigt sowie die Fortsetzung des Erlösungswerkes durch die von Christus gestiftete Kirche und ihre Sakramente, die die Eingliederung in den mystischen Leib Christi und sein Wachstum veranschaulichen. Der III. Teil enthält 13 Visionen (also 6 + 7, die Summe der Visionen von Teil 1 und II). In diesem Teil wird das Wirken des Heiligen Geistes erschlossen.
In der Eingangsvision ist der dramatische Sturz der rebellischen Engel dargestellt, die kohlschwarz in den Abgrund stürzen. Ihr lichtvoller Glanz aber wird dem Menschen geschenkt, der - im Symbol von Lehm im Herzen des himmlischen Vaters ruht. Die Menschen bilden nun den »zehnten Chor der Engel«, ein grundlegender theologischer Gedanke in Hildegards Schriften, den sie von den Kirchenvätern und mittelalterlichen Autoren übernommen hat. Der Mensch, das »plenum opus Dei«, soll Gott als Leib- Seele-Wesen den Lobpreis der ganzen Schöpfung darbringen.
In den Visionen 2 - 10 erblickt die Seherin das ganze Heils- und Erlösungswerk in Form eines Gebäudes (aedificium), das im Laufe der Zeit durch das Zusammenwirken von Gott und den Menschen errichtet und aufgebaut wird.
Die virtutes, die von Gott geschenkten Kräfte, steigen zu den Menschen herab, diese nehmen sie auf und wirken mit ihnen, so r daß die virtutes als »Tugenden« zu Gott emporsteigen. Dieses wunderbare Zusammenspiel wird besonders lebendig in der 8. Vision veranschaulicht. - Welt, Zeit und Geschichte haben den Sinn, das Reich Gottes aufzubauen bis zur Vollendung am Ende der Zeiten.
Ist dieses Ende erreicht (11. Vision), erscheint Christus, der Eckstein, in voller Gestalt. Sein mystischer Leib, die Kirche, ist vollendet. Nach dem Sturz des Antichrist erstrahlt die Kirche in leuchtender Schönheit.
Die 12. Vision veranschaulicht das jüngste Gericht, den Tag der großen Offenbarung. Nach dem gewaltigen Sturm der Weltenreinigung erscheinen »der neue Himmel und die neue Erde«, wenn Christus mit den Heiligen einzieht in die ewige Herrlichkeit. Die 13. Vision beschließt das große Werk Hildegards mit dem Hohenlied der Gnade dem Ordo Virtutum, dem Spiel der Kräfte, wie Maura Böckeler das großartig vertonte Werk Hildegards in ihrer »Scivias«-Übersetzung genannt hat. Der Ordo Virtutum wurde von dem Ensemble »sequentia« auf mehreren großen Bühnen in der Bundesrepublik Deutschland, in den Niederlanden und in den USA mit großem Erfolg aufgeführt. In diesem Melodrama, das mit seinem ungewöhnlich großen Tonumfang höchste Anforderungen an die Sängerinnen stellt, wird der Kampf des Menschen zwischen Gut und Böse veranschaulicht. Die virtutes ringen in stark beeindruckenden Gesängen um das Heil des Menschen, der seinen Konflikt in allen Tonlagen zum Ausdruck bringt. Der Teufel singt nicht - er kreischt und schmäht: denn das Singen stammt aus den Himmelshöhen. Bei Hildegard endet dieser Kampf mit dem Sieg des Guten.
Das musikalische Schaffen Hildegards - sie hat auch 77 geistliche Gesänge gedichtet und vertont - bedarf noch der intensiven Forschung.

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