Adelgundis Führkötter: Die heilige Hildegard (1098 bis 1179)
1098-1148
Mit der traditionsreichen Stadt Bingen am Rhein ist der Name der großen deutschen
Seherin Hildegard eng verbunden, die im 12. Jahrhundert drei Jahrzehnte hindurch
hier gelebt und gewirkt hat. Von Bingen aus hat sich ihr Ruhm verbreitet über das
ganze Deutsche Reich und darüber hinaus in Dänemark, England, Frankreich, Italien
und Griechenland. Ihr Gedenken hat weitergelebt über die Jahrhunderte hinweg. Aber
in den letzten Jahrzehnten ist diese »größte Frau des Mittelalters« (H. Büttner) in den
Mittelpunkt des geistigen Interesses gerückt. Viele Menschen unserer Zeit wenden sich
ihr mit vielfachen Problemen zu und suchen bei ihr Antwort auf brennende Fragen. Wir
können geradezu von einer Hildegard-Renaissance sprechen. Denn auch die
Forschung und die Populärwissenschaft befassen sich mit dem Leben und Werk dieser
genialen Frau und erkennen sie an als Seherin und Prophetin. In jüngster Zeit ist die
Forschung der Stellung Hildegards in der Prophetologie mit Erfolg nachgegangen (Chr.
Meier). Nicht zuletzt wird Hildegard aber auch als Heilige verehrt, wenngleich sie
offiziell nicht heiliggesprochen ist.
Hildegard wurde in Bermersheim in Rheinhessen nördlich von Alzey als letztes von
zehn Kindern geboren, von denen vier den geistlichen Stand erwählten. Der damaligen
Gepflogenheit des Hochadels entsprechend, übergaben ihre Eltern, der Edelfreie
Hildebert von Vermersheim (= Bermersheim) und seine Gemahlin Mechtild, ihr jüngstes
Kind im Alter von acht Jahren der Meisterin Jutta von Spanheim in die Klause, die
Juttas Vater, Graf Stephan, dem Mönchskloster Disibodenberg am Zusammenfluß von
Glan und Nahe hatte anbauen lassen. Hier sollte Hildegard für das geistliche Leben
nach der Benediktusregel erzogen werden. Im reifen Alter entschied sie sich
selbständig für das von der Welt abgeschiedene Leben, legte die Gelübde nach der
Benediktusregel ab und empfing von Bischof Otto von Bamberg den geweihten
Schleier. Die von den Mönchen Gottfried und Theoderich verfaßte älteste Hildegardvita
berichtet von dem tugendhaften Leben der jungen Nonne. Meisterin Jutta »nahm voll
Bewunderung wahr, wie aus einer Schülerin die Lehrmeisterin und eine Wegbereiterin
auf den Höhenpfaden [der Tugend]« wurde. Die Vita schildert auch die geschwächte
körperliche Konstitution der Nonne, die, äußerst sensibel, gesundheitlich unter
vielfachen Schwankungen zu leiden hatte.
Unter Juttas Leitung entwickelte sich die Klause zu einem kleinen Kloster. Nach ihrem
Tod (1136) wählten die Schwestern des Konvents Hildegard »einmütig" zu ihrer
geistlichen Mutter, wie Wibert von Gembloux berichtet.
Hildegard besaß eine besondere Gabe, aus der heraus sie ständig lebte und die sie
als Geheimnis in sich barg: das Charisma der Schau, der Visio. »Bei meiner ersten
Gestaltung, als Gott mich im Schoß meiner Mutter durch den Hauch des Lebens
erweckte, prägte er meiner Seele dieses Schauen ein«, schreibt sie in ihren
autobiographischen Notizen, die zum Teil in die Vita aufgenommen wurden. Nur
Meisterin Jutta und ihr Lehrer, der Magister Volmar, ein Mönch vom Disibodenberg,
wußten um diese Gabe der Visio.
Als Hildegard die Mitte ihres Leben bereits überschritten hatte, wurde sie in besonderer
Weise durch dieses Charisma geprägt. Sie schreibt darüber im Vorwort zu ihrem
Erstwerk »Scivias - Wisse die Wege«: »Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu
Christi, des Gottessohnes, als ich einundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam
ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte
mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht
brannte, sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre
Strahlen legt. Nun erschloß sich mir plötzlich der Sinn der Schriften, des Psalters, des
Evangeliums und der übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testamentes
...
Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften Zuständen, nicht im
Schlafe oder in Geistesgestörtheit, nicht mit den Augen des Körpers und nicht an
abgelegenen Orten, sondern wachend, besonnen und mit klarem Geist, mit den Augen
und Ohren des inneren Menschen, an allgemein zugänglichen Orten, so wie Gott es
will. Und ich hörte eine Stimme vom Himmel sagen: >Ich bin das lebendige Licht, das
das Dunkel durchleuchtet. Den Menschen, den ich erwählt [Hildegard] und den ich, wie
es mir gefiel, machtvoll erschütterte, habe ich in große Wunder gestellt, mehr noch als
die Menschen der alten Zeiten, die viele Geheimnisse in mir schauten ...
Du also, o Mensch, der du dies nicht in der Unruhe der Täuschung, sondern in der
Reinheit der Einfalt empfängst, hast den Auftrag, das Verborgene zu offenbaren.
Schreibe, was du siehst und hörst!« Und sie vernimmt die Worte: »Gebrechlicher
Mensch, Staub vom Staub der Erde und Asche von Asche, rufe und sage, wie man in
die Erlösung, die alles wiederherstellt, eingeht, damit die unterrichtet werden, die,
obgleich sie den inneren Gehalt der Schriften kennen, ihn dennoch nicht aussprechen
oder verkünden wollen. Denn sie sind lau und schwerfällig, die Gerechtigkeit Gottes
aufrechtzuerhalten.« (Visio 1.) Dieses Erlebnis vom Jahr 1141 war für Hildegard, wie
Chr. Meier es dargelegt und treffend formuliert hat, ein wahrhaft »pfingstliches«
Ereignis: das Herabkommen des Feuergeistes erschloß der Seherin plötzlich das
Verständnis der heiligen Schriften. Hinzu kam die Stimme Gottes, die die Visionärin zur
Prophetin berief und zum Verkünden von Gottes Wort und Willen aufforderte.
Hildegard war zutiefst erschrocken und voller Angst vor dem Gerede der Menschen,
ungewiß, ob sie ihr Glauben schenken würden. Sie weigerte sich zu schreiben, bis
»Gottes Geißel sie aufs Krankenlager warf«. Endlich legte sie, »bezwungen durch die
vielen Leiden, Hand ans Schreiben«. Mit dem Beginn der Niederschrift und bei der
Weiterarbeit an ihrem Erstwerk »Scivias Wisse die Wege« erfuhr sie mehr und mehr
einen Zuwachs an Kräften, Einsichten und Gestaltungsmöglichkeiten. So finden sich
bei der »nachinkarnatorischen Prophetin« Hildegard die typischen Merkmale der alten
Propheten, wie Chr. Meier sie aufgezeigt hat: die Unfähigkeitsbezeugung, die
Aufhebung der Schwäche und die Erstarkung der geistigen Kräfte und
Fähigkeiten.
Es ist verständlich, daß nicht nur Hildegard, sondern auch dem Abt Kuno vom
Disibodenberg sowie dem Erzbischof Heinrich 1. von Mainz nun an einer Bestätigung
von Hildegards Sehergabe und ihrer prophetischen Berufung durch die kirchliche
Autorität gelegen war. Die ersehnte Anerkennung wurde ihr zuteil durch Papst Eugen
III., der 1147/48 in Trier eine Synode abhielt. Er sandte eine
Untersuchungskommission zum Disibodenberger Frauenkloster, die mit positiven
Ergebnissen zurückkehrte und dem Papst einen Teil des »Scivias« überreichte. Dieser
las der großen Versammlung persönlich daraus vor, wie die Vita berichtet. Alle brachen
in Jubel aus, und Abt Bernhard von Clairvaux bat im Namen aller Anwesenden, er
möge »ein solch hellstrahlendes Licht nicht durch Schweigen überdecken; er solle
vielmehr eine solche Begnadung durch seine Autorität bestätigen«. Papst Eugen
entsprach diesem Verlangen und richtete an Hildegard ein Schreiben, in dem er sie
ermunterte, an ihrem Werk weiterzuarbeiten. - jetzt hatte Hildegard endlich die
kirchliche Bestätigung ihrer Sendung, und zwar von der höchsten kirchlichen
Autorität.
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