HILDEGARD VON BINGEN
Prophetin in die Zeit
Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt als eine der bedeutendsten Frauen des
deutschen Mittelalters und ist heute weit über die Grenzen ihrer rheinischen Heimat
hinaus bekannt. Ihre Zeitgenossen zog sie ebenso in ihren Bann wie die Menschen,
die heute nach Sinn, Orientierung, Ganzheit und Heil suchen.
Hildegards Werk und Selbstverständnis trägt stark visionäre und prophetische Züge.
Göttlicher Ursprung dessen, was sie im "Lebendigen Licht" geschaut und gehört hat,
und Sendungsbewußtsein der Prophetin zeichnen sie gleichermaßen aus. Hildegard
wollte die Menschen ihrer Zeit aufrütteln und der Gott-Vergessenheit entgegentreten.
Dabei predigte sie keineswegs eine wertlose Innerlichkeit. Ihr ging es um die religiöse
Deutung des gesamten Universums, um ein konsequent gelebtes christliches Leben.
Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Dasein in all seinen
Facetten und Möglichkeiten, war für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe, war Geschenk
und Aufgabe zugleich.
Hildegards Schriften schöpften vor allem aus der Hl. Schrift, der Liturgie und der Regel
des hl. Benedikt, aus den Quellen also, aus denen sie als Ordensfrau und
Benediktinerin lebte. Aber auch die Kirchenväter kannte sie gut. Drei große
theologische Werke hat Hildegard verfaßt. In ihrem ersten Werk "Scivias - Wisse die
Wege" schlägt sie einen großen heilsgeschichtlichen Bogen von der Schöpfung der
Welt und des Menschen über das Werden und Sein der Kirche bis zur Erlösung und
Vollendung am Ende der Zeiten. Die ewige Geschichte von Gott und Mensch, von
Abkehr und Hinwendung des Menschen zu seinem Schöpfer wird in immer neuen
Bildern anschaulich gemacht. Beeindruckend an Hildegards Visionsschriften ist vor
allem ihre elementare Sprachgewalt. Hildegard erweist sich dabei nicht nur als
souveräne Theologin, sondern ebenso als Dramaturgin, Dichterin und
Komponistin.
Letzteres fand seinen Niederschlag auch in der Komposition von 77 Liedern und dem
Singspiel "Ordo Virtutum - Spiel der Kräfte", in dem sie den ewigen Kampf zwischen Gut
und Böse in 35 dramatischen Dialogen zur Darstellung bringt. Theologisch brachte sie
dasselbe Thema in ihrem zweiten großen Hauptwerk, dem "Liber Vitae Meritorum -
Buch der Lebensverdienste" noch einmal zur Sprache. Der Mensch, so Hildegards
Grundanliegen, ist frei geschaffen und sein Leben lang in die Entscheidung gestellt,
seiner in der Schöpfung grundgelegten Gottesebenbildlichkeit zu entsprechen.
"Werde, was du bist - Mensch, werde Mensch!", dieses heute so oft zitierte Wort
könnte sehr wohl dem Denken Hildegards entnommen sein.
In ihrem dritten Werk, dem "Liber divinorum operum - Welt und Mensch", einer
gewaltigen Kosmosschrift, läßt Hildegard die Welt als Kunstwerk Gottes aufstrahlen.
Der Mensch erscheint als Mikrokosmos, der in all seinen körperlichen und geistigen
Gegebenheiten die Gesetzmäßigkeiten des gesamten (Makro-)Kosmos widerspiegelt.
Alles ist aufeinander bezogen, wechselseitig miteinander verbunden und in Gott
untrennbar vereint.
Der Gedanke der Einheit und Ganzheit ist auch ein Schlüssel zu Hildegards natur- und
heilkundlichen Schriften. Diese sind ganz davon geprägt, daß Heil und Heilung des
kranken Menschen allein von der Hinwendung zum Glauben, der allein gute Werke
und eine maßvolle Lebens-Ordnung hervorbringt, ausgehen kann. Auch hier war
Hildegard nicht nur eine Prophetin ihrer Zeit, sondern kann auch dem heute suchenden
Menschen Wegweisung und Orientierung geben.
Nachhaltigen Ausdruck verlieh Hildegard ihrem prophetischen Anliegen auch in ihren
Briefen, von denen mehr als 300 bis heute überliefert sind. Es sind Zeugnisse
unerschrockener Direktheit, radikaler Ehrlichkeit, mahnender Sorge, erfrischend
humorvoller Weitherzigkeit, persönlichen Engagements für die Armen und
weitreichender (kirchen-)politischer Einflußnahme. Hildegard galt als anerkannte
Autorität ihrer Zeit. Viele suchten ihren Rat, auch wenn er oftmals unbequem war.
Hildegard war und ist ein Stachel im Fleisch von Kirche und Welt - vor 900 Jahren wie
auch heute. Sie starb am 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg bei
Bingen.
Sr. Philippa Rath OSB
Wirkungsstätten